Effektivste Selbstverteidigung?

Was macht zielgerichtetes Selbstverteidigungs-Training aus – Das effektivste Selbstverteidigungssystem ?

Wer kennt sie nicht die Werbung mit Superlativen in der Kampfkunst/Kampfsport und Selbstverteidigungsszene?

Das effektivste Selbstverteidigungssystem der Welt!

Einzigartig effektiv, schnell erlernbar. Körperkraft, Größe und Gewicht spielen keine Rolle!

Wir nutzen die Kraft des Gegners gegen ihn…!

Dem unbedarften Interessenten bzw. hilfesuchenden Bürger, der sich Selbstverteidigungsfähigkeiten aneignen möchte, bietet sich eine Fülle von Anbietern, die vorgeben genau seine Bedürfnisse befriedigen zu können. Der Markt ist schließlich hart umkämpft. Betrachten wir diesen genauer.

Der Kampfkunst-/Kampfsport-/Selbstverteidigungsmarkt

Ganz grob können wir zwischen Kampfsport und Kampfkunst unterscheiden. Eine weitere eigene moderne Kategorie stellen Reality Based Systems, Combatives, militärische Nahkampfsysteme etc. dar.

Kampfsportarten

In der Regel sind Kampfsportarten aufgrund des leistungs- u. wettkampforientierten Trainings realistischer und vernünftiger in der Herangehensweise. Das mag manchem Kampfkünstler sauer aufstoßen, ist aber meine eigene wohlbegründete Meinung, die ich hier vertrete.

Kampfsport

Kampfsport – Evolutionäre Prozesse durch Wettkämpfe

Im Wettkampf lassen sich überprüfen, welche Trainingsmethoden, Techniken und Taktiken im Rahmen des jeweiligen Reglements am erfolgversprechendsten  sind. Es findet ein evolutionärer Prozess statt.
Was funktioniert, wird beibehalten, was sich nicht bewährt, aus dem Programm gestrichen.

Ein weiterer ganz wesentlicher Aspekt ist der mentale und körperliche Druck, dem die Sportler ausgesetzt sind. Davon können die Kampfsportler im Ernstfall durchaus profitieren.
Man stelle sich den Wettkampfboxer vor, der gegen einen trainierten Gegner antreten muss, welcher ihn in aller sportlichen Freundschaft besinnungslos schlagen möchte. Der Boxer hat gelernt damit umzugehen – körperlich und mental.

Eignung der jeweiligen Systeme zur Selbstverteidigung

Um die Eignung einer Kampfsportart für die Selbstverteidigung abschätzen zu können, sollte man aber noch einen genauen Blick aufs Regelwerk werfen.
Was ist erlaubt, was verboten? Sind Schläge erlaubt? Ist greifen – ringen regelkonform?

Wird Leicht-, Semi – oder gar Vollkontakt trainiert? Wird mit Waffen gekämpft?

Werden unterschiedlichste Szenarien aufgearbeitet? Welche Gewichtsklassen gibt es?
Was kann dich in einer Notwehrsituation erwarten? Welche Szenarien klammert das Regelwerk aus, welche deckt sie ab?

Martial Arts – Kampfkünste?

Wing Chun

Kampfkünste sind in ihrer Herangehensweise oftmals realitätsferner. (Ausnahmen mögen die Regel bestätigen.) Da zumeist der Wettkampfcharakter fehlt, ist hier schlicht und einfach mehr Raum für Fehlentwicklungen aus Sicht des “Selbstverteidigers”.

Vorlieben einzelner Meister und deren Trainingsmethoden werden im Laufe der Zeit zum Dogma. Oft nicht mehr hinterfragt und dem Realitätscheck unterworfen.

No touch master vs. MMA:

Die Argumente mancher Systemvertreter – unsere Techniken sind zu tödlich. Wir können also im Training nicht damit kämpfen, sollte man gelassen belächeln und als das stehen lassen, was sie sind – Ausreden. Sogar das Militär hält Manöver ab, um zu trainieren…

Kampfkünste können eine großartige Bereicherung für die Ausübenden darstellen. Schulen sie doch Körpergefühl, Gleichgewichtssinn, Kraft , Geschmeidigkeit, Konzentrationsvermögen und vieles mehr.

Viele Kampfkünste sind auch ausdrücklich auf die Formung der Persönlichkeit oder den Erhalt der Gesundheit ausgerichtet. Ich stelle meine Betrachtungen hier aber unter dem Aspekt der oftmals angepriesenen Übertragbarkeit für den Selbstschutz und den damit übertriebenen Versprechungen an.

Militärische Nahkampfsysteme – Reality Based – Das effektivste Selbstverteidigungssystem?

military based - combatives

Werfen wir  einen Blick auf die sogenannten – reality based systems, Combatives, militärische Nahkampfsysteme etc.
Das klingt erst mal schon mal vielversprechender, wenn wir an Selbstverteidigung denken.

Per Definition decken diese Systeme im Training schon mal diverse Szenarien ab, mit denen man im Ernstfall rechen muss, oder?

Was du bei militärischen Nahkampfsystemen allerdings im Hinterkopf behalten solltest.

Diese Systeme haben die Aufgabe schnell einfache Fähigkeiten zu vermitteln. Die Aufgabe von Soldaten ist es aber mit Kriegswaffen zu agieren und nicht unbewaffnet zu kämpfen.

Was ist die Lösung?

Was die beste Wahl für dich?

Bedenke!

Manche Systeme haben ihr eigentliches Ziel aus den Augen verloren,  zu Gunsten einer eher gewinnorientierten Haltung. Blut, Schweiß und Tränen lassen sich in der Trainingspraxis nun mal schlechter verkaufen als im Kino. (vgl. Rocky 1 bis 9?)

Kann man ihnen da einen Vorwurf machen? Aus meiner Sicht – Ja, man muss es sogar. So sehr ich ihre Beweggründe nachvollziehen und verstehen kann, stehen hier potentiell die Gesundheit oder gar das Leben von fehlgeleiteten Schülern auf dem Spiel.

Insider wissen, dass dieser Vorwurf auch vielen Kampfkunstlinien zu machen ist, die ihre Inhalte als pure Selbstverteidigung anpreisen. Das trifft allzu oft aber  nicht zu, da meist das desillusionierende Sparring weggelassen wird. Das öffnet unrealistischen Ansätzen Tür und Tor.

Beispiel aus einem Werbevideo

Genauere Angaben mache ich aus hoffentlich nachvollziehbaren Gründen nicht.

Manche Kampfkünstler sind wesentlich klagefreudiger als kampfstark.

Eine Dame, die überzeugt ist, mit starken Männern körperlich mithalten zu können, weil sie ja die Kraft des Gegners gegen ihn einsetzen kann oder aber Geheimtechniken erlernt hat.

Sie weiß auch um die Schwachstellen des menschlichen Körpers und wie man diese attackiert.
Die Dame geht nun auch abends im Dunklen durch einen Park, den sie zuvor gemieden hatte. Sie könne sich schließlich verteidigen. Solche Fehlschlüsse können sich als absolut fatal erweisen. Es liegt in der Verantwortung des jeweiligen Lehrers das klar zu stellen und nicht Illusionen zu züchten.

siehe Selbstverteidigung für Frauen

Fitness im regulären Training

Krafttraining

Gern wird mit dem Fitnessaspekt des Trainings geworben. Manche werben sogar damit, dass du die meiste Zeit des Trainings im „Fettverbrennungsbereich“ verbringst. Hier haben wir dann so etwas, wie die eierlegende Wollmilchsau der Selbstverteidigunsszene gefunden. Du wirst schlank, fit und kannst dich im Notfall wehren.

Das Gesamtpaket für Optimisten sozusagen, und das ist wohlwollend formuliert.

Körperliche Fitness ist im Ernstfall äußerst wichtig. Trotzdem sollte man sich die Frage stellen, wie viel Platz man ihr im Selbstverteidigungstraining einräumen möchte und inwieweit es sinnvoll ist im Gruppentraining Übungen zu machen, die man problemlos alleine machen kann. Trainingszeit ist kostbar.

Du solltest sie nutzen!

Wahl des SV Systems – Das effektivste Selbstverteidigungssystem

Ein paar Entscheidungshilfen bei der Wahl der Schule bzw. des Systems. Grundsätzlich sollte es zu den eigenen Vorlieben und körperlichen Fähigkeiten passen. Nicht jeder hat die Statur um erfolgreich Sumo zu ringen. Der Sumo-Ringer wiederum wäre mit Sprungtritten aus dem Taekwon Do schlecht beraten. Ich hoffe, es wird klar, worauf ich hinaus möchte..

Trainingsmethodik

Knüpfen wir bei den Trainingsmethoden an. Welche Kriterien müssen unabhängig vom Stil erfüllt sein, um sich kämpferisch wirklich weiterzuentwickeln.
Ich bin schon vor vielen Jahren auf die Konzepte von Matt Thornton aufmerksam geworden. Konzepte, die wie er sagt, jedem Kampfsportler klar sind, bei vielen eher realitätsferneren Trainingsgruppen auf Verwunderung und Widerstand stoßen.

Er nennt das Konzept “aliveness” bestehend aus “timing”, “energy” und”motion”.

Dead Patterns

Um nicht sogenannte “dead patterns”, also tote Bewegungsmuster, zu trainieren, braucht es einen unkooperativen Trainingspartner. Meine langjährige Erfahrung als Trainer fließt in die folgende Betrachtung mit ein.
Die Kunst ist es, soviel Widerstand zu bieten, dass der Trainierende weder über-, noch unterfordert ist und so kontinuierlich Erfahrungen sammeln kann. Eine Faustregel: Der Schüler sollte eine Erfolgsrate von 40% bis 60% haben. Nicht zu schwer – nicht zu leicht.

Das muss nicht immer gegeben sein, aber doch einen wesentlichen Bestandteil der Trainingszeit gegeben sein. Ein wesentlich besserer Trainingspartner kann aber genauso wertvoll sein wie ein schwächerer.

Wesentlich ist respektvoller sportlicher Umgang miteinander. Man wird gemeinsam besser und poliert nicht sein Ego an den Trainingspartnern auf. Die Einstellung ist nicht nur menschlich schwach, sondern auch kontraproduktiv um voranzukommen.

Timing – Motion – Bewegung

Beinarbeit darf nicht ausgeklammert werden, wenn man kämpferisch trainiert. Sie ist wesentlich.

Es ist absolut ok – Drills zu trainieren, ohne Beinarbeit, wenn man dies ganz gezielt und bewusst tut, um beispielsweise Koordination bei Anfängern zu trainieren. Man darf aber nicht ausschließlich dabei bleiben, denn sonst lernt man nicht Distanz einzuschätzen, sich zum Gegner zu positionieren, zu meiden, Druck aufzubauen und vieles mehr.

Energy

Umgang mit Widerstand und Druck. Es macht kaum Sinn an einem keinen Widerstand bietenden Partner zu üben, wenn man sich auf eine körperliche Auseinandersetzung mit einem “Gegner” vorbereiten will. Allerdings sollte man den Druck, mit dem gearbeitet wird, fein tunen. Dauerhafte Überforderung des Übenden wird zu Angstreaktionen, schlechter Technik und nachlassender Motivation führen.

Es kann aber durchaus sinnvoll sein, ab und an an die Grenzen geführt zu werden. Um zu spüren – wie es sich anfühlt – was möglich ist – was da auf einen zukommen kann. Nur bitte nicht oft, sonst wird es ganz schnell kontraproduktiv. Wir wollen den Großteil der Trainingszeit in einem Bereich verbringen, der fordert, aber nicht überfordert.

Analogie zum Krafttraining – Das effektivste Selbstverteidigungssystem

Das kann man gut mit sinnvollem Krafttraining vergleichen. Es macht keinen Sinn 100 kg Bank zu drücken, wenn deine one rep maximum bei 90 kg liegt.
Wenn du das Ding nicht bewegen kannst, wird bestenfalls eine isometrische Übung draus, die nur einen bestimmten Winkelbereich trainiert. Trainingsfortschritte werden auch nur schwer messbar sein.
Im schlimmsten Fall erschlägt dich die Hantel.
Im besten Fall hast du einen Partner, der dir eine sichere negativ (absenken des Gewichts) Wiederholung ermöglicht. Einen maximalen Trainingsreiz setzt und dafür sorgt, dass es unfallfrei geschieht. Das darf aber nicht meine Haupttrainingsmethode sein, sonst kommst du schnell ins Übertraining. Ab und an gezielt eingesetzt, kann sie aber durchaus sinnvoll sein.

Fassen wir zusammen – Das effektivste Selbstverteidigungssystem

Es lohnt sich überzogene Werbeaussagen kritisch zu betrachten.

Wir haben den Markt grob in die KategorienKampfkunst, Kampfsport und Selbstverteidigungssysteme unterteilt.
Das System sollte deinen Vorlieben und körperlichen Voraussetzungen möglichst gut entsprechen.
Worauf du unbedingt achten solltest, sind die Trainingsmethoden, die praktiziert werden.

Anhand oben genannter Kriterien kannst du schnell herausfinden, was zielgerichtetes, realistisches Training ausmacht. Hier habe ich Matt Thorntons Konzept und meine Erfahrungen ausgeführt.

Neben der Trainingsmethodik solltest du unbedingt die folgenden Inhalte betrachten.

  • Werden Szenarien behandelt?
  • Vorkampfverhalten?
  • Ritualkampf?
  • Rechtliches zum Thema Notwehr?

Körperliche Fitness ist wesentlich, allerdings solltest du dich fragen, wie die Trainingszeit optimal genutzt werden kann und ob selbstschutzspezifisches Training, in dem Rahmen, nicht wichtiger wäre.

Hinterlasst mir gerne Fragen, Kommentare bzw. Anregungen zu künftigen Artikeln.